Dies ist das Archiv des Kontexts des Buches: " Achtundsechzig, eine Bilanz". Hier finden Sie archivierte Rezensionen, Kommentaren, Videos und Artikel zu dem Buch.
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40 Jahre 1968
Vierzig Jahre nach 1968 erhält die damalige Protestbewegung den Rang eines nationalen Gedenkdatums. Das Selbstverständnis der Bundesrepublik ist eng verbunden mit den Impulsen, die von der antiautoritären Bewegung ausgingen. Der Blick zurück ist allerdings verstellt von heutigen Legitimationsbedürfnissen, die immer in die Diskussion mit einfließen.
Chiffre 68
Bereits die Bezeichnung „68“ bildete den Ansatz für verklärende Legendenbildungen verschiedener Art (invention of tradition): 1977 wurde erstmals der Proteste der späten 60er Jahre gedacht, bis sich elf Jahre später 1968 als Gedenkjahr durchsetzte. Dieses Jahr soll eine Generation in der Revolte bezeichnen und suggeriert neben weltweiter Homogenität zugleich den Anfang und das Ende der Bewegung – ohne Vorgeschichte und ohne Echo. So besehen ist „68“ eine Chiffre, die wie ein Raumschiff ohne Bodenhaftung am Himmel schwebt.
Blick zurück: Prisma 1989/90
Die Chiffre „68“ verweist bereits auf ein bestimmtes Deutungsmuster. Eine dominante Deutung stammt von einem Chronisten der 68er-Bewegung, Wolfgang Kraushaar. Er lässt die Protestbewegung der 60er Jahre beinahe zwangsläufig im linken Terrorismus münden. Daran wird deutlich, dass die Perspektive, aus der wir heute auf die 60er Jahre schauen, durch das Prisma von 1989/90 gebrochen wird: sie ist geprägt durch die Auflösung der bipolaren Weltordnung. Die Stichworte lieferten Francis Fukuyama mit dem Ende der Geschichte (The End of History and the Last Man, 1992) und Joachim Fest mit dem Ende des utopischen Zeitalters. Insbesondere Fest hatte in seiner Streitschrift Der zerstörte Traum das Paradigma Utopie = Terror aufgestellt, auf das die Ableitung 68 = Terror zurückgeht – eine mechanische Kausalität, die in den 70er Jahren nur von rechtskonservativen Politikern behauptet wurde. Entscheidend ist, dass der Blick auf „68“ in der heutigen Retrospektive durch den Paradigmenwechsel 1989/90 maßgeblich beeinflusst ist und in der Tendenz durch eine Gleichsetzung von Gewalt und Protestbewegung deren gesellschaftskritische Impulse pauschal negiert werden.
Soziokulturelle Neugründung
Steckte „68“ vor einem Jahrzehnt noch wie ein „Pfahl im Fleische“ (Oskar Negt), so findet mittlerweile eine Historisierung der Protestbewegung statt – „68“ erscheint als eine Episode in der Geschichte einer 50-jährigen „erfolgreich praktizierten Demokratie“. Gegen diese Historisierung sind gewichtige Einwände geltend gemacht worden: Etwa mit der These der Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik (Jürgen Habermas), einer gleichsam soziokulturellen Neugründung durch die 68er Protestbewegung und dem darauf folgenden „Marsch durch die Institutionen“ (Rudi Dutschke). So besehen wäre „68“ keine Episode in der Geschichte Westdeutschlands, sondern überhaupt die entscheidende Phase der demokratischen Fundierung der Bundesrepublik.
Ein Satz aus einer Rede von Oskar Negt auf dem Römerberg in Frankfurt vom 13. April 1968 bringt prägnant auf den Punkt, was der Kampf gegen einen „angstbesetzten Institutionalismus“ im Sinne einer programmatischen Aufhebung der formalen in eine konkrete Demokratie für eine Brisanz gehabt hat: „Wer die Sicherung der Freiheit dem Staat, seinen Beauftragten, den Großinstitutionen und machtvollen Organisationen überlässt, ist das Opfer einer fatalen Illusion: er glaubt an die Lebensfähigkeit einer Demokratie ohne Demokraten.“
In der zeitgenössischen Selbstdeutung der Beteiligten war „68“ ein Kampf um die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft auf mehreren Ebenen: gegen den „autoritären Charakter“ der Kleinfamilie, gegen die Ordinarienuniversität und für Mitbestimmung in den Institutionen des Staates, gegen den drohenden autoritären Staat und das „Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ (Th. W. Adorno), welches sich in der Notstandsgesetzgebung manifestierte, sowie gegen die aggressiven Tendenzen des Kapitalismus in der internationalen Sphäre, wofür der Krieg gegen Vietnam pars pro toto stand und die Jungend weltweit zu politisieren vermochte.
68 als Werteverfall
Nicht nur in Deutschland ist bei ehemaligen Protagonisten der Protestbewegung seit 1989/90 eine Tendenz der Distanzierung von ihren damaligen Positionen festzustellen. Sie reduzieren „68“ etwa auf einen Generationenkonflikt und stellen die Auseinandersetzung der 68er mit ihren Eltern als Repräsentanten verkrusteter, autoritärer Strukturen in den Vordergrund, aber meinen zugleich, man habe fälschlicherweise die pubertären und ödipalen Freiheitskämpfe statt in der Familie in der Gesellschaft ausgelebt. Eine derartige Psychologisierung lenkt ab von der politischen Bedeutung und den soziokulturellen Impulsen, die von der Protestbewegung weltweit ausgegangen sind. Oskar Negt bezeichnet in seinem Buch Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht diese Form des Opportunismus als „Geisteskrankheit der Intellektuellen“, die nunmehr das in Abrede stellen, wofür sie sich einst eingesetzt haben.
Mittlerweile wird die Protestbewegung der späten 60er Jahre für allerlei vermeintliche Spätfolgen verantwortlich gemacht: für einen allgemeinen Werteverfall, Hedonismus, Egoismus, Geburtenrückgang, den Mangel an Erziehung, fehlendes Wirtschaftswachstum infolge mangelnder Disziplin in der Arbeitswelt – mithin für sämtliche gesellschaftliche Krisensymptome, ja das Verschwinden von Gesellschaftlichkeit überhaupt.
Manche dieser Vorwürfe wurden bereits in der so genannten Tendenzwende Mitte der 70er Jahre vorgetragen. Damals kritisierten Rechtskonservative wie Helmut Schelsky, Hans-Joachim Arndt oder Hans Filbinger den vermeintlichen Sittenverfall oder das „Ausflippen ganzer Jahrgänge“. Mit dem Siegeszug der neoliberalen Ideologie seit Anfang der 90er Jahre sind diese Argumentationsfiguren in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Zusammenstellung der Texte
Im Folgenden möchten wir dazu beitragen, jenseits von gesellschaftspolitischen Legitimationszwängen einen Blick auf die antiautoritären Proteste der späten 60er Jahre zu ermöglichen und den gesellschaftspolitischen Kontext dieser Bewegung zu verdeutlichen. Die 68er, insbesondere die im SDS organisierten Gruppen als der „bewußteste Teil der Bewegung“, richteten sich mit ihren Aktionen gegen eine schleichende Entpolitisierung und Entdemokratisierung der Gesellschaft mit einem selten so ernst genommenen Anspruch theoretisch reflektierter Praxis: „Richtig interpretiert ist die Welt erst dann, wenn sie auch verändert wird.“ (Ernst Bloch)
Im ersten Teil werden zehn Personen portraitiert, die für die Suchbewegungen der 68er nach adäquaten Interpretationen der Welt, die sie verändern wollten, Lehrer oder Mentoren waren. Im zweiten Teil stellen wir zentrale Buchpublikationen der 60er Jahre vor und kommentieren ihre Bedeutung für die Protestbewegung. Oftmals waren Klassiker sozialistischer Theoriebildung nicht verfügbar; vergriffene Bücher und Broschüren wurden deshalb massenhaft als Raubdrucke vervielfältigt. Die berühmt gewordenen schwarzen Einbände belegen, wie stark das Bedürfnis nach Theorie gewesen ist, um die Praxis des Protestes zu orientieren, bis nach den ersten Rückschlägen die antiautoritäre Bewegung zerfiel und sich neue Legitimationsbedürfnisse verschiedener Splittergruppen geltend machten.