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In Frankfurt am Main, der zweiten Hochburg des Protests, tauften Studenten während des Streiks gegen die Notstandsgesetze die Johann Wolfgang Goethe-Universität schon mal in "Karl-Marx-Universität" um und besetzten das Rektorat -nicht ohne darüber zu diskutieren, ob es rechtmäßig oder gar revolutionär sei, die Alkoholvorräte des Rektors zu plündern.
Plötzlich schienen Theorie und Praxis zusammenzuschießen. Was eben noch in kleinen Zirkeln debattiert wurde, drängte nun in die gesellschaftliche Wirklichkeit, aus Protest wurde Widerstand. "Phantasie an die Macht!" lautete die Parole - das Bedürfnis, kollektiv zu handeln und die Welt zu verändern, sprengte das akademische Seminar-Universum. 30 Jahre später ist das historische Ereignis ein alter Hut jenseits von Internet.
Wie nachhaltig aber die Bedeutung von ''68 für die zweite deutsche Republik ist, zeigt sich nicht nur an aktuellen Absurditäten wie dem volkspädagogischen Super-GAU des grünen Fünf-Mark-Fundamentalismus und der geisterhaften RAF-Auflösung, sondern auch im ganz normalen progressiven Alltag. Von der Frauenbeauftragten bis zum Motorradpfarrer, vom ökopazifistischen Sozialkundelehrer zur esote- rischen Massagepraxis - man leidet an der Welt und hängt an der Idee, vor der sich im Zweifel stets die Wirklichkeit blamiert. Kompromisse mag man sowenig wie Widersprüche, die sich nicht einfach auflösen lassen. Grundsätzlich gilt: Die Verhältnisse sind schuld, und alles wird immer schlimmer.
"Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung; wir gehören ihr nur in dem Maße an, wie wir uns gegen sie auflehnen. Alle sind unfrei unter dem Schein, frei zu sein": Einen radikaleren und eloquenteren Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft als den hochgebildeten jüdischen Linksintellektuellen Adorno, der wie Horkheimer und Marcuse bald nach Hitlers Machtergreifung in Amerika Zuflucht fand, kann man sich schwerlich vorstellen.
Seine schneidende Kritik am System von Tausch und Profit, an der Unterwerfung des Individuums unter die spätkapitalistische Funktionslogik war so berüchtigt wie seine Syntax: Haupt- und Nebensätze wie mit der Rasierklinge gezogen, messerscharf und verschlungen zugleich. Lange vor der Johannes-B.-Kerner-Show entging selbst der harmlose Spaß nicht dem Fallbeil seiner Kritik: "Fun ist ein Stahlbad. Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig. Lachen in ihr wird zum Instrument des Betrugs am Glück."
Auch der fast zehn Jahre ältere Horkheimer, Jude und US-Bürger, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil wieder Leiter des Instituts für Sozialforschung und Rektor der Frankfurter Universität wurde, formulierte gern kristallin und apodiktisch - wie im Jahr 1934: "Die revolutionäre Karriere führt nicht über Bankette und Ehrentitel, über interessante Forschungen und Professorengehälter, sondern über Elend, Schande, Undankbarkeit, Zuchthaus ins Ungewisse, das nur ein fast übermenschlicher Glaube erhellt."
Herbert Marcuse schließlich, der während des Krieges für den amerikanischen Geheimdienst OSS, Vorläufer der CIA, gearbeitet und eine Studie über "die neue deutsche Mentalität" im NS-Staat angefertigt hatte, war der populäre Positivist unter den heroischen Negativisten, die optimistische Volksausgabe der Kritischen Theorie. Zwar ließ auch er kein gutes Haar am Hier und Jetzt - "Das Bestehende war immer als Ganzes schlecht" -, doch hatte der Erfinder von so erfolgreichen Begriffen wie "Repressive Toleranz", "Große Weigerung" und "Neue Sensibilität" ein Herz für die Utopie, für das erlösende Zukunftsbild und die politisch korrekte Erziehung der Volksmassen.
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