RAF-Terror wucherte aus dem Geist des Judenhasses

Ein Anschlagsserie erschütterte 1970 München: Der Historiker Wolfgang Kraushaar lenkt den Blick auf die Wurzeln der deutschen "Stadtguerilla". Allerdings wirft seine These einige Fragen auf.

Von Sven Felix Kellerhoff

Die Welt, 25.02.2013


Gudrun Ensslin war ungehalten. Jedenfalls fluchte die Mitbegründerin und eigentliche Vordenkerin der Terrorgruppe Roten Armee Fraktion: "Diese Arschlöcher! Gut, dass diese Sache den Neonazis untergeschoben wurde!" So schilderte der Kronzeuge Gerhard Müller, einer von nur ganz wenigen Terroristen, die jemals sachdienliche Aussagen gemacht haben, am 13. April 1976 ein Gespräch zwischen Ensslin und Irmgard Möller, in dem es um einen Anschlag mehrere Monate vor Gründung der RAF gegangen war.

Am 13. Februar 1970 hatten nie ermittelte Täter mit einem Benzinkanister Feuer im Altersheim der Israelitischen Kulturgemeinde München gelegt. Sieben ältere Menschen, meist Überlebende des Holocaust, waren im Haus Reichenbachstraße 27 um Leben gekommen. Angesichts der offen antisemitischen Propaganda der NPD und ihrer Gesinnungsgenossen war in der Öffentlichkeit schnell der Eindruck aufgekommen, Rechtsextremisten müssten für den bis dahin schwersten antisemitischen Anschlag in der Bundesrepublik verantwortlich sein.

Von der dem widersprechenden Aussage des Kronzeugen Müller erfuhr die Öffentlichkeit seinerzeit nichts; sie – blieb anders als weitere seiner Aussagen über das Innere der ersten RAF-Generation – geheim. Darauf gestoßen ist erst der Terrorismus-Experte Wolfgang Kraushaar bei seinen Recherchen über die Wurzeln des deutschen Linksterrorismus. Dazu untersuchte er eine Serie von vier Attentaten auf israelische oder jüdische Ziele in München oder von München aus, die innerhalb von elf Tagen im Februar 1970 in München stattfanden. Obwohl diese Anschlagswelle 55 Tote forderte, ist sie in der Öffentlichkeit nahezu vollkommen vergessen.

Der erste Verlag lehnte ab

Für sein neues Buch "Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?" hat der am Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Historiker den antisemitischen Morast durchwühlt, auf dem der linke Terrorismus seit 1967 gedieh. Wesentliche Teile seiner Recherchen sind bereits in die viel beachtete ARD-Dokumentation "München 1970. Als der Terror zu uns kam" von Georg M. Hafner eingeflossen, die im Sommer 2012 ausgestrahlt wurde.

Doch das Erscheinen von Kraushaars Buch verschob sich, weil sein Hausverlag Hamburger Edition das Manuskript im letzten Moment ablehnte. Jetzt hat der Rowohlt-Verlag den umfangreichen Band herausgebracht.

Es ist nicht neu, dass Hass auf Israel zu den wesentlichen Triebfedern des deutschen Linksterrorismus gehörte. Viele Mitglieder der ersten beiden RAF-Generationen sind in Camps verschiedener palästinensischer Gruppen in Jordanien oder Jemen ausgebildet worden. Die Zusammenarbeit zwischen antisemitischen Terroristen etwa der PLO, der PFLP und anderer Gruppen mit ihren deutschen "Genossen" ist schon während ihres illegalen "Kampfes" unübersehbar gewesen.

Mordversuch am Gedenktag

Der erste potenziell große Anschlag deutscher Linksterroristen, der durch Glück unterblieb, zielte ausgerechnet am 9. November 1969, dem 31. Jahrestag der "Reichskristallnacht", auf das Jüdische Gemeindehaus in West-Berlin. Wolfgang Kraushaar hat dieses lange völlig vergessene Attentat 2005 in einem Aufsehen erregenden Buch weitgehend aufgeklärt und konnte den Mord-Plan den "Tuparamros West-Berlin" zuordnen, einer militanten Gruppe unter Leitung des "Kommunarden" Dieter Kunzelmann.

Allerdings spielt die Facette des linken Antisemitismus im heute vorherrschenden Narrativ über die RAF nur eine untergeordnete Rolle. In Stefan Austs Bestseller "Baader-Meinhof-Komplex" kommen Beispiele dafür zwar vor, doch sie wirken an den Rande gerückt gegenüber seiner zentralen These. Aust sieht, aus seiner Perspektive ohne Zweifel korrekt, in der RAF vor allem einen Aufstand von ideologisierten Bürgerskindern. Doch das ist eben nur die eine Seite.

Noch geringer ist die Bedeutung, die andere Autoren dem Judenhass als Motiv des Linksterrorismus zumessen. Der Journalist Willi Winkler etwa, der den Amoklauf der RAF gegen Demokratie und Rechtsstaat allen Ernstes eine "große deutsche Passionsgeschichte" nennt, überschreibt ein zentrales Kapitel seines Buches "Nie wieder Auschwitz". Das grenzt an aktive Irreführung. Denn gerade der Antizionismus gehört zu den durchgängigen Motiven von radikalen Teilen der Studentenbewegung und des "antiimperialistischen" Terrorismus, übrigens bei der westdeutschen Linken mitunter bis heute.

Ulrike Meinhofs Judenhass

Nach dem palästinensischen Anschlag auf Olympia 1972 schrieb Ulrike Meinhof in der Haft ein Papier "zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes". Darin lobte sie die Geiselnahme jüdischer Sportler als beispielhaft und attackierte die Bundesrepublik, weil sie Israel "sein Wiedergutmachungskapital" bezahlt und Waffen geliefert habe.

Meinhof zufolge hätten die Terroristen "Geiseln genommen von einem Volk, das ihnen gegenüber Ausrottungspolitik betreibt" – in ihrem Verständnis ein legitimes Mittel. Gerade der Angriff auf die als Kontrast zu den Olympischen Spielen von 1936 organisierten "fröhlichen Spiele" von München hätte die Parallelität beider Großereignisse offengelegt.

Diese Argumentation überzeugte seinerzeit nicht einmal Gudrun Ensslin, die wohl erkannte, dass sich die RAF durch ein solches Manifest nur noch weiter isolieren konnte. Jedenfalls polemisierte sie im internen "Info-System" gegen das Meinhof-Papier, das sie allerdings irrtümlich dem ebenfalls inhaftierten Holger Meins zuordnete. Offenbar war der Israel-Hass in der RAF-Führung allgegenwärtig.

Bayerische Keimzelle der RAF

Wolfgang Kraushaars Buch beleuchtet jetzt erstmals die ideologische Prägung der bayerischen Keimzelle der RAF. Unter den Namen "Tupamaros München" unter der Führung des vermeintlichen "Haschrebellen" Fritz Teufel hatte sich Anfang 1970 diese militante Gruppe gebildet, aus der später Irmgard Möller, Rolf Heißler und Brigitte Mohnhaupt in den innersten Kern der RAF aufstiegen. Mindestens zwei Dutzend Brand- und Bombenanschläge gingen 1970/71 auf das Konto dieser Gruppe, bei denen nur durch Glück kein Menschen zu schweren Schäden kam.

Neu an der These Kraushaars ist, dass er diese Gewaltwelle, die großenteils parallel zur Rüstphase der ersten RAF-Generation stattfand, in den Kontext der antiisraelischen und antisemitischen Anschlägen palästinensischer Gruppen in München und von München aus stellt und eine Verbindung zum nicht aufgeklärten mörderischen Anschlag in der Reichenbachstraße knüpft.

Einen schlagenden Beleg für seine These kann er aber nicht vorlegen. Zwar führt Kraushaar elf Gründe an, warum es gerade deutsche Linksextremisten aus dem Umfeld der "Tupamaros München" gewesen sein könnten, die den verheerenden Brand im jüdischen Altersheim gelegt gelegt haben. Doch nichts davon ist mehr als intelligente Spekulation.

Es gibt keine Belege

Die ausführliche und sehr lesenswerte Schilderung der anderen drei Anschläge in jenen Februartagen lässt den Eindruck aufkommen, es bestehe eine Verbindung. Doch Indizien dafür gibt es nicht. Ganz vage Verbindungen über die Kontaktfrau der "Tupamaros" in den Nahen Osten, Ina Siepmann, ersetzen handfeste Belege nicht. Es ist denkbar, manchmal sogar wahrscheinlich, dass Kraushaars Annahmen zutreffen – nachweisen kann er diese Verbindung nicht.

Ebenso wenig übrigens wie seine Insinuation, die für die Olympischen Spiele 1972 Verantwortlichen in Polizei und Politik hätten keine ausreichenden Konsequenzen aus den Erfahrung der Anschlagsserie zweieinhalb Jahre zuvor gezogen und daher die Katastrophe des Anschlages auf israelische Sportler mitverschuldet. Allerdings wird in einer internen Aufgabenbeschreibung, die im Hauptstaatsarchiv München in den Akten zum Olympia-Anschlag liegt, selbstverständlich auf die Serie von 1970 hingewiesen. Ob die richtigen Schlüsse gezogen wurden, kann man angesichts des katastrophalen Ausgangs mit guten Gründen in Zweifel ziehen. Verdrängt jedenfalls wurde die antiisraelische Gewaltwelle nicht.

Ganz ähnliche Kritik zog schon Kraushaars vorangegangenes Buch Verena Becker und der Verfassungsschutz. "Verena Becker und der Verfassungsschutz" (Hamburger Edition) 2010 auf sich, das über mögliche Verbindungen zwischen der RAF-Terroristin Verena Becker und dem Verfassungsschutz spekulierte. Es ist gut möglich, dass der 2010 gestorbene Fritz Teufel der Kopf hinter dem bis heute unaufgeklärten Anschlag war. Zuzutrauen wäre es ihm gewesen. Doch mehr als ein Verdacht ist das nicht. Da Wolfgang Kraushaar trotz seiner umfangreichen Recherchen in Archiven und zahlreicher Gespräche mit Zeitzeugen nichts Handfestes vorlegen kann, muss die Täterfrage offen bleiben.

Kraushaars Verdienst allerdings ist, auf die oft verdrängte Geburt des deutschen Linksterrorismus aus dem Geist des Antisemitismus hingewiesen zu haben. Denn die Baader-Meinhof-Gruppe und all ihre Sympathisanten und Nachfolger waren tatsächlich, wie die britische Autorin Jillian Becker schon 1977 formuliert hatte, "Hitlers Kinder".

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