"Mutmaßungen über Fritz"
Gerd Koenen
Wie antisemitisch war die Linke? Eine Lektüre des neuen Buchs von Wolfgang Kraushaar, das nach fragwürdigen Wurzeln im deutschen Terrorismus der siebziger Jahre sucht.
Die Zeit , 07.03.2013
Das neue Buch von Wolfgang Kraushaar, über das nun vielerorts lebhaft diskutiert wird, trägt seine plakative These schon im Untertitel: München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus. Die Rede von den "Wurzeln" soll offenkundig den ursprünglichsten, geheimsten und angeblich nicht ausreichend gewürdigten Motivkern offenlegen: einen "primären Judenhass", der "die ungebrochene Wirksamkeit eines antisemitischen Latenzzusammenhanges" bis tief in die 68er-Linke hinein bewiesen habe und im Terrorismus nur offen zum Ausbruch gekommen sei.
Diese Diagnose hatte bereits im Zentrum von Kraushaars früherer Recherche Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus (2005) gestanden, an die das aktuelle Buch anschließt. Darin hatte er rekapituliert, was schon in früheren Darstellungen ausführlich beleuchtet worden war: dass der Spiritus Rector des Anschlags auf das Jüdische Gemeindehaus in West-Berlin am 9. November 1969 der Oberhäuptling der ehemaligen Kommune 1, Dieter Kunzelmann, war. Bei einer Reise nach Palästina im Sommer 1969 hatten er und seine Reisegefährten, vor allem der Professorensohn Georg von Rauch, beschlossen, eine eigene Stadtguerillagruppe, die Tupamaros West-Berlin, zu bilden. Und als die erste Aktion ihres "bewaffneten Kampfes", worin Palästina nun als "unser Vietnam" firmierte, hatten sie beschlossen, bei der jährlichen Feier zur "Kristallnacht" im Jüdischen Gemeindehaus eine Bombe zu platzieren – auch um den eigenen "Judenknax" zu überwinden, wie Kunzelmann auffordernd schrieb.
Diese (funktionsuntüchtige) Bombe war ihnen allerdings von dem Verfassungsschutzagenten und notorischen Agent Provocateur Peter Urbach zugereicht worden. Und man darf sich schon fragen, welchen moralischen Skandal man am Ende höher bewerten soll: diese niederträchtige Tat – oder die Kaltblütigkeit der Dienstherren des Bombenbauers, die bei der Feier anwesend waren, ohne Zeichen von Beunruhigung, nur um am folgenden Tag in Gestalt des Innensenators Neubauer an der Seite des verstörten Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski auf einer Pressekonferenz den "linken Antisemitismus" zu geißeln, der von 1967 an der Studentenbewegung als Ganzer ja regelmäßig zugeschrieben wurde.
Was das Buch wertvoll machte, war, dass Kraushaar den Bombenleger selbst, den Kommunarden Albert Fichter, ausfindig gemacht hatte, der sich sein Leben lang auf der Flucht vor seiner eigenen "üblen Tat" (wie er sie jetzt nannte) befunden hat; und er hatte ihn zu einer langen, detaillierten Konfession veranlasst, die mit einer Bitte um Vergebung an die Jüdische Gemeinde endete. Das war eine substanzielle Bereicherung unseres Wissens über das frühe Ausgangsmilieu des deutschen Terrorismus – mit dem schönen "Fehler", dass der Täter in das Klischee vom "primären Judenhass" nicht recht hineinpasste.
Das neue Buch von Wolfgang Kraushaar frischt nun allerdings mit doppeltem Elan genau diese These wieder auf, die schon damals nicht ganz passte. Es behandelt verdienstvollerweise einen bis heute unaufgeklärten Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum in München im Februar 1970, der in einer wirklichen Katastrophe mündete: Es gab sieben Tote und zwei Dutzend Verletzte und Traumatisierte, meist ältere Bewohner, "Überlebende" nun in einem zweifachen Sinn. Dieser Anschlag, so primitiv, wie er war, war tatsächlich einer der niederträchtigsten; und wie die Akten der Ermittler zeigten, führte von allen verfolgten Spuren die plausibelste in das Umfeld einer seit 1968 existierenden "Südfront". In diesem Umfeld bewegten sich auch die Tupamaros München, deren Kopf Fritz Teufel war, der andere prominente Protagonist der Kommune 1.
Ob es sich allerdings bei diesem nächtlichen Brandanschlag wirklich um eine unmittelbare Anschlusstat gehandelt hat, die gleichsam vollendete, was in Berlin "fehlgeschlagen" war, wäre erst einmal zu belegen gewesen. Zumindest fällt auf, dass es hier, anders als dort, kein Bekennerschreiben gab. Und die am direktesten von der Polizei Verdächtigten, ein 18-jähriger Lehrling und (eventuell) zwei seiner türkischen Freunde, waren eher Randfiguren dieser Münchner Kommunardenszene.
Wie auch immer: Diesen Fragen und Zusammenhängen noch einmal nachzugehen, wäre eine legitime und sinnvolle Arbeit gewesen – auch wenn sich am Ende die Tat nicht aufklären lässt. Hätte Wolfgang Kraushaar sich darauf konzentriert, den trüben Pool aus narzisstischer Geltungssucht und existenzialistischer Gewaltbereitschaft um dieses Münchner "Südfront"-Milieu auszuleuchten, aus dem später ein erheblicher Teil der deutschen Terrorkader sich rekrutierte und in dem (vielleicht) auch die Idee dieses mörderischen Brandanschlags ausgeheckt worden ist, wäre es ein anderes, konziseres Buch gewesen.
Aber Kraushaar wollte mehr: Sein monumentales Anklagedossier will plausibel machen, dass diese Tat mit vier anderen, sehr zeitnahen Ereignissen koordiniert gewesen sein müsse: zwei fehlgeschlagenen Flugzeugentführungen, die dramatischste davon in München, und zwei Bombenanschlägen, einer auf eine Swissair-Maschine in Zürich, die daraufhin mit allen Passagieren abgestürzt war. Die gefassten Täter waren palästinensische Kommandos oder Bombenbauer, aus scharf rivalisierenden Gruppen.
Mutmaßungen über Fritz
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Kraushaar geht es darum, Fritz Teufel und die Kommune 1 moralisch zu erledigen
Damit nicht genug: Alle diese Ereignisse im Frühjahr 1970 sollen nur das Vorspiel für den eigentlichen, großen Schlag, die Geiselnahme der israelischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München durch den "Schwarzen September", gewesen sein. Das sei "möglicherweise" eine Idee gewesen, so Kraushaar, die den Palästinensern erst von den Deutschen, vor allem vom Spaßguerillero Fritz Teufel als bekanntestem Akteur eines "Anti-Olympischen-Komitees", eingegeben worden sei. Insgesamt spreche "einiges dafür", dass es sich von Berlin 1969 bis München 1972 um "eine Serie" gehandelt habe, "hinter der möglicherweise ein Regisseur gestanden hat".
Was nach der aufmerksamen Lektüre von 875 Seiten über hundert Holzwege und Seitentreppen bleibt, ist allerdings nicht mehr als eine sehr dünn belegte und wenig plausible Hypothese. Wenn man recht versteht, liefe sie etwa darauf hinaus, dass Kunzelmann und von Rauch bei ihrer Palästina-Reise im Sommer 1969 bei einem ad hoc zustande gekommenen Treffen mit Faruk Kaddumi, der rechten Hand von Jassir Arafat, eine strategische Arbeitsteilung beschlossen haben sollen, wonach die Palästinenser Anschläge auf den internationalen Flugverkehr und die Deutschen Anschläge gegen "zionistische" Einrichtungen im eigenen Land verüben sollten. Möglich immerhin, dass sich das so oder so ähnlich in den drogenumnebelten, von gewaltbereiten Allmachtsfantasien besessenen Köpfen der deutschen Kommunarden zusammengereimt hat. Nur erscheinen die Akteure, um die es hier geht, vollkommen inkompatibel. Und für irgendeine tatsächliche Koordination, geschweige eine "Regie", gibt es keinen einzigen materiellen Hinweis.
Auch die bei den Verhaftungen oder Durchsuchungen gefundenen Briefe und internen Aufzeichnungen, die Kraushaar als zentrale – und tatsächlich interessanteste – Beweisstücke präsentiert, sprechen bei sorgfältiger Lektüre eher gegen seine These. So schreibt Teufel am Tag des Brandanschlags auf das Münchner Gemeindezentrum an Kunzelmann: "wenn alles gutgeht eröffnen wir nächste woche die große frühjahrsoffensive".
Nicht nur, dass er offenkundig von dem Anschlag, dessen Inspirator er doch angeblich gewesen sein soll, nichts weiß. Seine "frühjahrsoffensive" meint vielmehr eine Serie persönlich ausgeführter kleinerer Anschläge gegen Justizangehörige, die anderthalb Wochen später beginnt und Züge eines autistischen Kleinkriegs trägt. Dass Teufel sich zuvor von lokalen Journalisten und sogar einem Monitor-Fernsehteam poppig verkleidet vor dem Olympiagelände und einer Haftanstalt hat interviewen und fotografieren lassen und dabei angekündigt hat, man werde ihn nun für zehn Jahre nicht mehr sehen, außer auf einer Anklagebank, lässt auch nicht gerade auf einen großen strategischen Plan mit Regisseur im Hintergrund schließen. Ein paar Monate später hatte man ihn geschnappt.
Ganz ähnlich wird Kunzelmann in auffälliger Verkleidung Wochen später am Berlin Flughafen festgenommen, als er seine Freundin Ina Siepmann, die aus Amman einschwebt, dort abholen will. Darauf hatten die Ermittler gerade gewartet. In seiner konspirativen Wohnung werden delirante und unverschlüsselte Aufzeichnungen Georg von Rauchs gefunden, die für Kraushaars These vom großen Olympiaattentatsplan eigentlich als zentraler Beleg dienen sollen. Näher betrachtet, passen auch sie kaum ins Bild. Zwar haben sie die gewaltsame "Sprengung der Olympiade" zum Gegenstand. Aber wie? "Bei der Fahnenhissung fallen die ersten Schüsse. Wenn die Polizei schießt, schießen wir zurück." Parallel dazu solle das Olympische Dorf im Sturm genommen werden: "Überall werden neue Kommunen gebildet." Gleichzeitig werden amerikanische Schlachtschiffe in die Luft gesprengt, und so weiter. Ein drogenerleuchtetes Armageddon also – von dem sich die eiskalt exekutierte, auf präzise Forderungen gestützte Geiselnahme des palästinensischen Kommandos zwei Jahre später so vollständig unterscheidet wie nur möglich. Da ist von Rauch schon ein Jahr tot, der eigenen Maxime treu: "Die Polizei schießt, wir schießen zurück."
Merkwürdig ist, warum in Kraushaars Buch die ungleich bedeutenderen Episoden einer wirklichen Symbiose deutscher und palästinensischer Terroristen – etwa der deutschen Helfer des von arabischen Geheimdiensten und vom KGB gesponserten "Carlos" – nicht berührt werden; so wenig wie die parallele Geschichte der RAF, die sich anfangs auf denselben Spuren entwickelt und dann scharf löst aus diesem Szenesumpf. Kraushaar ist es eben vor allem darum zu tun, nach Kunzelmann auch Fritz Teufel, an dessen Berliner Grab noch immer Teenager ihre Herzchen ablegen, als wäre er John Lennon, moralisch zu erledigen und mit ihm die Kommune 1, die er sogar zur "Herzkammer" der Protestbewegung macht.
Hier gewinnt die Rede von den "antisemitischen Wurzeln" eher etwas Verdunkelndes statt Erhellendes. Ich für mein Teil hatte die Kommunarden mit ihrer Parole "Entwurzelt euch!" als die "Idioten" des neurotischen deutschen Familienromans gedeutet, in den alle Generationsschicksale von Hitlers Kindern (wie ein Weltbestseller 1977 hieß) eingebunden blieben. Statt das Spiel der deutschen Selbstfaszinationen immer weiter zu spielen, käme es darauf an, es selbst etwas besser zu verstehen.