Linke Abwehr

Wolfgang Kraushaar, Die Welt, 23. März 2013


Das Wort Holocaust stammt aus dem Griechischen, heißt "vollständig verbrannt" und meinte in der Antike ursprünglich das Brandopfer von Tieren. Seit der Ausstrahlung des gleichnamigen Fernsehfilms im Januar 1979 hat sich im deutschen Sprachraum durchgesetzt, diesen Ausdruck als Bezeichnung für die von den Nazis organisierte Massenvernichtung der Juden zu verwenden. Der am 13. Februar 1970 auf das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde in München verübte Brandanschlag wirkt wie ein Zitat dessen, was mit Holocaust gemeint ist und seit 1945 für immer hätte vorbei sein müssen.

Als der Kriminalpolizist Josef Wilfling an jenem Freitagabend zum Tatort in der Reichenbachstraße kam, wurde er mit Bildern konfrontiert, die sich in sein Gedächtnis regelrecht eingefressen haben müssen. Eines der verkohlten Opfer, schildert er seine Eindrücke in dem im letzten Sommer ausgestrahlten Dokumentarfilm "München 1970", habe "wie ein abgebranntes Streichholz" an der Wand gelehnt. Wer wie ich diese Aufnahme gesehen hat, die sich zusammen mit anderen in den Ermittlungsakten befinden, der wird diese Bilder ebenso wenig wieder vergessen können wie der spätere Chef der Münchner Mordkommission und heutige Krimiautor.

Der Anschlag war der zweite in einer Reihe, die am 10. Februar begonnen, am 21. Februar geendet und mit 55 Opfern mehr Tote als irgendeine andere terroristische Serie in Mitteleuropa gekostet hatte. Anschlagsziele waren, ob am Boden oder in der Luft, allesamt Israelis und Juden. Das Buch, das nun seit vier Wochen auf dem Markt ist, schließt an meinen 2005 erschienenen Band über "Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus" an, jenem perfiden Anschlag auf die Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung am 31. Jahrestag für die Opfer des von den Nazis am 9. November 1938 verübten Judenpogroms. Während es mir in diesem Zusammenhang nicht nur gelang, den Bombenleger ausfindig zu machen, sondern von ihm auch ein Geständnis auf Band zu erhalten, war die Hoffnung, dass etwas Vergleichbares auch im Fall Reichenbachstraße möglich sein würde, von Anfang an gering, ja fast ausgeschlossen. Schließlich war das, was am 13. Februar 1970 geschehen ist, ein Mordanschlag mit siebenfacher Todesfolge; ein Delikt, das nach deutschem Strafrecht nicht verjährt. Wer zum Tathergang, den Tatverdächtigen und den Hintergründen eine Zeugenaussage – von einem Geständnis zu schweigen – machen würde, der liefe Gefahr, sich selbst zumindest als Mitwisser unter Verdacht zu bringen.

Angesichts dieses objektiv vorhandenen Schwellenproblems war es absehbar, dass ich mit der Publikation all jenen eine Angriffsfläche bieten würde, die diese Darstellung schon deshalb ablehnen, weil es einen Zusammenhang thematisiert, der von Kräften, die sich ungebrochen positiv auf 1968 und seine kulturellen Errungenschaften beziehen, schon immer abgewehrt worden ist. Es hat einen ausschlaggebenden Grund dafür gegeben, dieses Risiko einzugehen: Das war die Absicht, die antijüdische Terrorserie vom Februar 1970 quellengestützt zu rekonstruieren. Zweitrangig war demgegenüber, den oder die Täter namhaft machen zu wollen. Das ist die Aufgabe der Justiz und nicht die eines Sachbuchautors. Ich bin Historiker und weder Kriminalist noch Staatsanwalt. Mein Ziel bestand darin, der Opfer zu gedenken, ihre hinterhältige Ermordung dem Vergessen zu entreißen und ihre Geschichte ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen. Wie auch immer die Kontroverse über die Publikation ausgehen mag, bereits jetzt ist abzusehen, dass zumindest dieses Ziel durch die Aufmerksamkeit, die die Publikation gefunden hat, letzten Endes erreicht werden dürfte.

Von den Reaktionen, die bislang vorliegen, stechen strikte Ablehnung wie partielle Kritik in der Sache und Würdigung des Unternehmens insgesamt ins Auge. Sie reichen von dem Urteil, dass es "ein großes historisches Werk" ("FAZ" vom 22.2.) darstelle bis zur Verdammung, dass es sich dabei weder um "guten Journalismus" noch um "gute Wissenschaft" handle ("SZ" vom 22.2.). Am auffälligsten ist allerdings, dass sich Münchens Oberbürgermeister Christian Ude vor den Karren dieses Verrisses hat spannen lassen. Die Tatsache, dass er, der damals selbst als "SZ"-Redakteur gearbeitet und nicht wenige der Akteure persönlich gekannt hat, die versuchte Aufklärung schlichtweg als "Entlastungsangriff" gegenüber der Klärung der NSU-Mordserie abzutun versucht, ist gelinde gesagt irritierend. Das Oberhaupt jener Stadt, die gut daran täte, sich dem Faktum der damals begangenen antijüdischen Verbrechen und ihrer politischen wie strafrechtlichen, ihrer gesellschaftlichen wie moralischen Nichtaufarbeitung zu stellen, scheut sich offenbar nicht, hier ganz unterschiedliche und noch immer tief verstörende Mordaktionen gegeneinander auszuspielen. Das erweckt fast den Anschein, es sei besser, über den antisemitischen Anschlag in der Reichenbachstraße auch weiterhin den Mantel des Schweigens auszubreiten.

Der Artikel selbst, in dem sich Ude zitieren lässt, stellt weniger die Rezension eines Buches als eine vehemente, zuweilen von hysterischen Obertönen bestimmte Abwehrreaktion dar. Sie ist nur in einer Hinsicht aufschlussreich – an ihr lässt sich die Organisierung von Reflexen studieren, die sich in einem bestimmten Milieu auf Zuruf immer wieder aktualisieren. Bereits vor ein paar Jahren hatte ihr Autor Willi Winkler unter dem bajuwarischen Titel "Der Großkasperl" in der Besprechung einer Kunzelmann-Biografie versucht, den Urvater der Kommunarden und des deutschen Terrorismus als Avantgardist zu retten, dem es selbst beim Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus immer nur auf die möglichst ultimative Provokation angekommen sei. Was es dazu anzumerken gibt, hat mit Thierry Chervel der Begründer des Online-Magazins "Perlentaucher" in all seiner Absurdität bereits ausgeführt: "Sind die im Gemeindehaus versammelten Juden das 'Publikum' einer Avantgarde, die nun mal nicht nett zu ihm ist? Sollten sie das Attentat im Namen der Kunstfreiheit über sich ergehen lassen?" So weit habe jedenfalls der Versuch einer Ehrenrettung des ewigen Bohemiens und Avantgardisten gereicht.

Auch der "FAZ"-Redakteur Lorenz Jäger hat in seiner Besprechung die Behauptung zu dementieren versucht, dass Kunzelmann Antisemit gewesen sei. Das lässt sich jedoch bestreiten. Es gibt mindestens drei Zeugen, die ihn als einen überzeugten Antisemiten geschildert haben. Unter ihnen der spätere Verleger Lothar Menne, der einst selbst Mitglied in der 1963 von Kunzelmann gegründeten "Subversiven Aktion" war. 2008 hat er in einem Interview geschildert, dass sich Kunzelmann bereits Mitte der Sechzigerjahre entsprechend zu erkennen gegeben hat. Er habe ihm schon damals mit dem Vorwurf "Du, mit Deinem Juden-Tick" aufzuziehen versucht. Das sei ihm, so Menne, als Anzeichen eines klassischen Antisemitismus fränkischer Provenienz erschienen.

Thomas Assheuer hat nun ("Die Zeit" vom 7.3.) die These vertreten, dass es keinen spezifischen Antisemitismus von links gebe, sondern nur einen ganz allgemeinen, unabhängig von den jeweils damit in Verbindung gebrachten politischen Präferenzen. Damit läuft er Gefahr, einer seitens der Linken ohnehin angestrebten Tendenz zur Selbstexkulpierung Vorschub zu leisten. Denn es spricht vieles dagegen, den linken Antisemitismus seiner Spezifika zu entkleiden und auf diese Weise aufzulösen. Es macht einen großen Unterschied, ob man von einem Antisemitismus von links, rechts oder vielleicht auch von einem der Mitte spricht. Denn seitens der Linken wurden und werden noch immer Ansprüche formuliert, nach denen man auf Seiten der Rechten vergeblich suchen müsste. Ulrike Meinhof etwa verstand sich als "Antifaschistin", wie sie im Dezember 1972 im Mahler-Prozess auf die Frage nach ihrem Beruf stolz verkündete. Das hatte sie ein paar Wochen zuvor allerdings nicht davon abgehalten, den heimtückischen Überfall von Mitgliedern des "Schwarzen September" auf die israelische Olympia-Mannschaft als eine modellhafte antiimperialistische Aktion zu verklären, die von "Sensibilität" und "Menschlichkeit" bestimmt gewesen sei, die Revolutionäre nur aus ihrer Verbundenheit mit dem Volk haben könnten.

Inzwischen hat auch Ulrich Enzensberger auf Jägers Appell reagiert, er solle sich zum Brandanschlag Reichenbachstraße äußern. Seine Feststellung, dass er an dem Anschlag nicht beteiligt gewesen sei und auch keine Informationen darüber besitze ("FAZ" vom 5.3.), ist zunächst einmal zu begrüßen. Jetzt gibt es immerhin ein Statement, an dem er sich wird messen lassen müssen. Es wäre zudem zu wünschen, dass es ihm die anderen seiner ehemaligen Kampfgenossen gleichtun.

Der Inhalt der Erklärung aber ist äußerst dürftig und wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Zunächst einmal fällt auf, dass er sich bemüßigt gefühlt hat, etwas zu dementieren, was im Buch gar nicht behauptet worden ist. An keiner Stelle ist zu lesen, dass ich ihn der Brandstiftung in der Reichenbachstraße bezichtige. Es geht einzig und allein darum, dass er etwas von dieser Tat gewusst bzw. erfahren haben könnte. Schließlich bildete er nach Ansicht der Ermittler zusammen mit Alois Aschenbrenner und jenem 18-Jährigen, der über kein Alibi verfügte und auf den sich der Verdacht der Ermittler am stärksten konzentrierte, zeitweilig eine Art Trio. Es ist kaum vorstellbar, dass Enzensberger nicht davon erfahren hat, dass dieser junge Mann am 8. April 1970 nach einer Hausdurchsuchung sogar vorübergehend festgenommen worden war. Auffällig ist auch, dass sich Enzensberger an einigen Stellen outet. Dies betrifft aber ausschließlich solche Passagen, die für ihn völlig unproblematisch sind. Im Gegensatz dazu zieht er es vor, die Anonymisierung überall dort beizubehalten, wo er Schwierigkeiten befürchten müsste.

Nachdem 2005 mein Buch über die "Bombe im Jüdischen Gemeindehaus" erschienen war, hatte er mir in meinem Hamburger Büro einen Besuch abgestattet. Er wollte wissen, was ich an Fakten über den Anschlag in der Reichenbachstraße recherchiert hatte. Ob er dies aus eigenem Interesse oder aber auf Betreiben von anderen, etwa Kunzelmann, getan hat, lässt sich nicht beurteilen. Auf jeden Fall aber hat er bei mir den Eindruck hinterlassen, mich über den nach wie vor so brisanten Fall auszufragen. Am Ende des mehrstündigen Gesprächs kündigte er an, selbst ein Buch über die 1969/70 in Berlin und München verübten und zum Teil den beiden Tupamaro-Gruppen zugerechneten Anschläge schreiben zu wollen. Auf diese Publikation warte ich heute noch.

Wie eng seine Beziehung zu Dieter Kunzelmann vermutlich immer noch ist, lässt sich daran erkennen, dass er ihn in einem 1998 veröffentlichten "Nachruf" gewürdigt hat. Das einstige "Alpha-Männchen" der Kommune I hatte damals in einer Berliner Tageszeitung eine Todesanzeige publiziert, mit der die Öffentlichkeit ganz offensichtlich an der Nase herumgeführt werden sollte. Das hat Enzensberger nicht davon abgehalten, dem angeblich Verblichenen in der "Jungle World" die wärmsten Worte hinterherzuschicken. Enzensberger scheute sich nicht, den einstigen Kampfgefährten mit den Worten zu "verewigen": "Seine Büste wird die Kamine aller wahrhaft edlen Menschen zieren." Das war eine Zeile aus Hans Arps berühmtem Gedicht "Kaspar ist tot" und sollte nun der Veredelung des ersten antisemitischen Terroristen dienen, den es in Deutschland nach 1945 gegeben hat.

Das wiederum hat auch Winkler in seiner Eloge auf den "Großkasperl" einschlägig kommentiert. Zum Zeitpunkt seiner inszenierten Selbsttötung, heißt es darin, sei Kunzelmann noch nicht "büstenreif" gewesen. Inzwischen – man schrieb das Jahr 2009 – sei es aber soweit. Da es nur der "Gaudi" und nicht der Gewalt gelinge, etwas gegen Autoritäten ausrichten zu können, sei demnächst eine "Kunzelmann-Büste" fällig. Doch auch darauf warte ich bislang vergeblich.

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