Das Trauma der Linken
Kommentar von Susie Linfield
taz.de
27.04.2013
Susie Linfield , geboren und aufgewachsen in New York, ist Autorin unter anderem für The Nation, The New Republic und den New Yorker. Derzeit arbeitet sie als Holtzbrinck Fellow an der American Academy Berlin. Sie ist außerordentliche Professorin für Journalismus an der New York University und unterrichtet dort Kulturberichterstattung und Kulturkritik.
Ihr Buch über Fotojournalismus „The Cruel Radiance: Photography and Political Violence“ erschien im letzten Jahr bei University of Chicago Press (344 Seiten).
Als Amerikanerin, Jüdin, Linke und Journalistin bin ich fasziniert – und manchmal auch beeindruckt, irritiert oder abgestoßen – von der Art, wie Deutsche versuchen, mit der Vernichtung der Juden durch die Nazis fertigzuwerden. Mir ist in den Monaten, seitdem ich in Berlin lebe, immer klarer geworden, dass die deutsche Beziehung zur „jüdischen Frage“ (die einige die „deutsche Frage“ nennen) untrennbar mit der Geschichte und Praxis der deutschen Linken verbunden ist.
Anlässlich des Buchs von Wolfgang Kraushaar „Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ ist die Debatte über linken Antisemitismus wiederaufgeflammt. Ein faszinierender Vorläufer seines Bandes ist „Utopia or Auschwitz: Germany’s 1968 Generation and the Holocaust“ von Hans Kundnani (320 Seiten, Hurst & Company, London 2009).
Der britische Journalist untersucht darin die Beziehung der neuen Linken (also der in den 60er Jahren neu entstandenen Bewegungen) in Deutschland zum Holocaust. Kundnani argumentiert überzeugend, dass diese Beziehung der Grund für die immer obsessiveren Attacken auf Israel und die Wendung zum Terror war.
Die französische neue Linke ließ sich vom Heroismus der Résistance inspirieren, die deutsche sah sich von den Bildern der Gaskammern verfolgt. Sie glaubte, die Alternative bestünde für Deutschland entweder in der Schaffung einer Utopie oder einem neuen Auschwitz. „Während junge Leute in anderen Ländern von dem Traum, eine bessere Gesellschaft zu schaffen, angetrieben wurden, war ihr Antriebsmotor in Deutschland ein Alptraum“, schreibt Kundnani.
Deutscher Faschismus ist eine KapitalismusvarianteAuf Max Horkheimers berühmtes Zitat: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch vom Faschismus schweigen“, stürzten sich die studentischen Aktivisten mit Enthusiasmus. Es erlaubte ihnen, den entscheidenden Unterschied zum Nationalsozialismus, den Völkermord, in ihrer Analyse zu umgehen und den deutschen Faschismus zu einer bloßen Variante des Kapitalismus zu erklären.
„Obwohl Auschwitz seinen festen Platz in der Rhetorik der Studentenbewegung hatte, tendierten die Aktivisten auf einer tieferen Ebene dazu, den Holocaust zu einem Nebengeschehen zu erklären“, so Kundnani.
Aus Bequemlichkeit ignorierte die neue Linke Horkheimers anderes Diktum: „Wer Antisemitismus erklären will, muss den Nationalsozialismus meinen.“ Als die Studentenbewegung immer autoritärere Züge annahm – als sie Professoren attackierte, die Freiheit der Rede unterdrückte, die Justiz verhöhnte –, wurde ihr Bruch mit den Theoretikern der Frankfurter Schule deutlich.
Natürlich hatten die Bewegungen in anderen Ländern dieselben antiliberalen Tendenzen inne. Aber Deutschland war auch hier besonders: Die deutsche Bewegung wusste – oder hätte zumindest wissen sollen –, wohin politische Einschüchterung und ein Kult der Gewalt führen konnten.
Der Sechstagekrieg und die LinkeDer amerikanische Historiker Moishe Postone hat über die deutsche neue Linke geschrieben: „Keine westliche Linke war vor 1967 so philosemitisch und prozionistisch. Danach identifizierte sich keine so stark mit der palästinensischen Sache.“
Der israelische Sieg im Sechstagekrieg und die folgende Besetzung der Palästinensergebiete, verbunden mit der gleichzeitigen Abwendung der Linken von der einheimischen Arbeiterklasse und der Hinwendung zu den „Verdammten dieser Erde“, schuf dafür die perfekten – um genau zu sein: die fatal perfekten – Voraussetzungen.
„Was Antizionismus genannt wurde, war in Wirklichkeit so emotional und psychisch aufgeladen, dass es die Grenzen einer politischen und sozialen Kritik des Zionismus sprengte“, so Postone.
Eine kleine, wenn auch einflussreiche Minderheit von Aktivisten nahm an militärischen Trainingcamps der Palästinenser teil und griff jüdische und israelische Ziele mit Bomben und Brandsätzen an. Die verbale Kritik an der Besatzung der Palästinensergebiete – die meines Erachtens grundsätzlich berechtigt ist – durch die deutsche Linke nahm ein weitaus größeres Ausmaß an. Sie schmähte Israel mit wachsender Wut als faschistisch.
Die Beschäftigung mit Israel-eine EntlastungsfunktionDie Beschäftigung mit Israel hatte, wie es der Historiker Dan Diner nennt, eine Entlastungsfunktion: Sie war ein Versuch, die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen bestreiten zu können, indem man die Politik der Nazis auf ihre früheren Opfer projizierte. Gleichzeitig bestanden studentische Aktivisten auf einer anderen wirren Projektion. Sie seien die „neuen Juden“. Ich bin mir nicht sicher, ob es dafür ein Wort im Deutschen gibt, aber im Jiddischen würde dies Chuzpe genannt werden.
Die schreckliche Konsequenz all dieser Bosheiten war 1976 die Entführung des Air-France-Fluges ins ugandische Entebbe durch Palästinenser und Deutsche, die jüdische und israelische Passagiere für eine mögliche Exekution selektierten – ein hässlicher Widerhall der Selektion von Juden durch die Nazis. Und die Entführer konnten sich nicht einmal darauf berufen, nur Befehle zu befolgen.
Entebbe war in gewissem Sinn der Anfang vom Ende. Kundnani schreibt, dass der Schock nach der Entführung eine Neubewertung der Analyse, der Taktik, der Ziele und des Ethos der deutschen neuen Linken auslöste. Und nicht nur der Antisemitismus der deutschen Linken wurde zum Thema.
Auch etwas weitaus Verstörenderes kam zum Vorschein: Die Erkenntnis, dass das Ethos der Nazis sich nicht in den Institutionen der Bundesrepublik widerspiegelte, sondern in den Aktivisten. Wie in einer griechischen Tragödie war die größte Angst der jungen Deutschen Realität geworden. Statt sich von der Vorgängergeneration zu befreien, hatten die linken Aktivisten ihre schlimmsten Eigenschaften geerbt.
Die Friedensbewegung der 80er
Kundnani sieht die folgenden Ereignisse – die Gründung der Grünen und die Friedensbewegung der 80er Jahre – gleichzeitig als Zurückweisung der deutschen Vergangenheit und ihrer Kontinuität.
Auf der einen Seite wandte sich die Friedensbewegung gegen den deutschen Militarismus; auf der anderen Seite war sie äußerst nationalistisch und sah Deutschland als Opfer des amerikanischen Imperialismus. Die Antikriegseinstellung wurde insbesondere in den postjugoslawischen Kriegen der 90er Jahre einer schmerzhaften Prüfung unterzogen.
In einem besonders lesenswerten Abschnitt skizziert Kundnani die innergrünen Debatten über Bosnien und Kosovo, in denen die Pazifisten samt ihrer „Nie wieder Krieg“-Haltung mit Leuten wie Daniel Cohn-Bendit aufeinanderprallten, die eine bewaffnete Intervention gegen Slobodan Milosevic unterstützen und mit dem kategorischen Imperativ „Nie wieder Auschwitz“ argumentierten.
Beide Seiten argumentierten mit den Lektionen, die das Nachkriegsdeutschland aus dem Holocaust ziehen sollte. In den Monaten, seitdem ich in Berlin bin, fühle ich manchmal eine – niemals explizit gestellte – Frage zum Holocaust von wohlmeinenden Deutschen, die in etwa so geht: Mit all unseren Gedenkstätten, Büchern, Lehrplänen, Gerichtsverfahren und Reparationszahlungen – können wir das mit dem Holocaust nicht in Ordnung bringen?
Unmöglich, die Vergangenheit zu bewältigen
Die Frage ist verständlich, aber die Antwort ist dennoch Nein. Völkermord – und dessen unfassbarer, kranker Sadismus – kann niemals in Ordnung gebracht oder vollständig verstanden oder erledigt werden. Adornos Warnung vor der Unmöglichkeit, die Vergangenheit zu bewältigen, sollte noch immer befolgt werden.
Die deutsche neue Linke war zu nahe an der Vergangenheit, die sie so verzweifelt verleugnen wollte; sie konnte keine vernünftiges Verhältnis zu den Verbrechen und der Grausamkeit der Nazizeit entwickeln. Auch für jede neue Generation von Nachkriegsdeutschen wird dies ein schwieriges Unterfangen bleiben. Aber es ist ein gutes Zeichen im heutigen Deutschland, dass es andere Alternativen gibt als eine Utopie, die niemals erreicht werden kann, oder Auschwitz, das die unheilbare Wunde bleiben wird