50 Mittelweg 36 4–5/2016
Ein Gespräch mit Wolfgang Kraushaar – »Good Vibrations«
»Good Vibrations«
Ein Gespräch mit Wolfgang Kraushaar über
Popkultur und Protestbewegung
50 Mittelweg 36 4–5/2016
Mittelweg 36: In seinem Buch Als wir jung und schön waren behauptet
Matthias Matussek: »Die genuine Versammlungsform jener Zeit ist nicht
die Demonstration, sondern das Konzert, das Festival.« Hat er damit
Wichtiges über 1968 mitgeteilt?
Kraushaar: (lacht) Mir verrät diese These zunächst einmal, dass Matthias
Matussek ein Zuspätgekommener ist.
Und das heißt?
Seine Behauptung lässt sich schon rein empirisch widerlegen: Konzerte
haben zumindest hierzulande in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre keine
besondere Rolle gespielt. Das änderte sich erst ab 1970, als man versuchte,
sich das, was durch den Woodstock-Film und die entsprechende Doppel-
LP massenmedial verbreitet wurde und überall präsent war, zu eigen zu
machen und zu imitieren. Das Woodstock-Konzert fand ja im August 1969
statt. Das erste wirklich große deutsche Open-Air-Konzert folgte im September
1970 auf der Ostseeinsel Fehmarn. Zuvor waren zweifellos Demonstrationen
und Kundgebungen die zentrale Vergemeinschaftungsform all
derer, die sich irgendwie als oppositionell oder rebellisch verstanden. Diese
Geschichte mit den Open-Air-Konzerten stammt ja ursprünglich aus den
USA. Das erste große Pop-Konzert im Freien fand im Juni 1967 in Monterey
in Kalifornien statt. Der wichtigste Veranstalter von Pop- und Rock-Konzerten
ist damals ein Mann namens Bill Graham gewesen. Der war so etwas
wie die Seele von Haight Ashbury, der Hippie-Hochburg in San Francisco.
Graham war ein deutsch-jüdischer Immigrant, in Berlin geboren, 1938 in
die Vereinigten Staaten geflohen. Der hat ab 1965 mehr oder weniger alles
organisiert, was in San Francisco angesagt war: Jefferson Airplane, Grateful
Dead, die Doors, Velvet Underground. Ohne Bill Graham hätte es auch das
Konzept für Woodstock nicht gegeben. Woodstock war, wenn man so will,
die Verlagerung der soziokulturellen Figuration von Haight Ashbury auf die
andere Seite der Vereinigten Staaten an die Ostküste. Die Wahl des Ortes
war im Grunde genommen eine Geste der Ehrerbietung gegenüber Bob Dylan.