»Die Gefährdung der Demokratie geht in
erster Linie nicht mehr von den Rändern
der Gesellschaft aus, sondern von ihrer Mitte«
— Keine Falsche Toleranz

Audio: Gespräch zum Buch, Deutschlandradio Kultur, Gespräch mit Christian Rabhansl · 04.02.2023


Klappentext:

Die Vorstellung, wehrhaft sein zu müssen, wirkte lange wie aus der Zeit gefallen. Dass sie ins Zentrum der politischen Debatte zurück­ gekehrt ist, liegt vor allem an Putins Überfall auf die Ukraine und seinem mit genozidalen Zügen durchgeführten Annexionskrieg. Mit der erneuerten Wehrhaftigkeit nach außen geht allerdings ein­ her, die Wehrhaftigkeit nach innen auf den Prüfstand zu stellen. Denn im Unterschied zu früheren Jahrzehnten hat die Bedrohung zugenommen und geht fast ausschließlich von rechts aus.

Zwei politische Faktoren prägen das neue Gefährdungsszenario: Parlamentarisch ist mit der Alternative für Deutschland (AfD) seit nunmehr fünf Jahren eine starke rechtspopulistische Partei im Bundestag vertreten, die sich offen gegen die liberale Demokratie stellt und die autoritäre Internationale bewundert. Gesellschaftlich hat im Zuge der Anti­Corona­Demonstrationen die radikale Rech­te Einfluss auf eine Massenbewegung gewonnen, die ihr neue machtpolitische Optionen verschafft. Beide Elemente haben die Demokratie gewissermaßen in die Zange genommen.

Wolfgang Kraushaar erscheinen mehrere strukturelle Korrekturen erforderlich, um das Konzept einer ‚wehrhaften Demokratie‘ so zu erneuern, dass die Bundesrepublik besser gegen künftige An­griffe gewappnet ist. Zum einen gilt es, der empirisch vielfach belegten Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Gefährdung der Demokratie nicht mehr in erster Linie von den Rändern der Gesellschaft ausgeht, sondern von ihrer Mitte. 


Bestenlisten

Sachbücher des Monats, Dezember 2022

Quellen: Die Welt/RBB Kultur/ Neue Zürcher Zeitung/ORF-Radio Österreich 1

1. Orlando Figes, Eine Geschichte Russlands. Übersetzt von Norbert Juraschitz, Verlag Klett-Cotta, 447 Seiten, € 28,00

2. Andrea Wulf, Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich. Übersetzt von Andreas Wirthensohn, Verlag C. Bertelsmann, 528 Seiten, € 30,00

3. Wolfgang Kraushaar, Keine falsche Toleranz. Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss, Europäische Verlagsanstalt, 602 Seiten, € 34,00

4. Philipp Blom, Die Unterwerfung. Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur, Carl Hanser Verlag, 368 Seiten, € 28,00

5. Ian Kershaw, Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert. Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt, Deutsche Verlags-Anstalt, 589 Seiten, € 36,00

6. Marlen Hobrack, Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet, Verlag Hanser Berlin, 224 Seiten, € 22,00

7. Norbert Miller, Die künstlichen Paradiese. Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge, Wallstein Verlag, 887 Seiten, € 48,00

8.-9. Maggy Habermann, Täuschung. Der Aufstieg Donald Trumps und der Untergang Amerikas. Übersetzt von Christiane Bernhardt et. al., Siedler Verlag, 832 Seiten, € 36,00

Norbert Mappes-Niediek, Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent, Verlag Rowohlt Berlin, 399 Seiten, € 32,00

10. Chelsea Manning, README.txt. Meine Geschichte. Übersetzt von Enrico Heinemann, Anne Emmert und Katrin Harlaß, Verlag HarperCollins, 336 Seiten, € 22,00

Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Natascha Freundel, RBB-Kultur; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Knud von Harbou, Feldafing; Prof. Jochen Hörisch, Uni Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel, Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Gerlinde Pölsler, Der Falter, Wien; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, krass-und-konkret, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Zürich.

Die Welt: Sachbücher des Monats, Februar 2023

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Börsenblatt: Sachbücher des Monats, Februar 2023

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Audio: Gespräch zum Buch “keine Falsche Toleranz”, Dezember 2022


Berliner Zeitung , 14 Dezember 2022

„Aus dem Wahngebilde wird eine reale Bedrohung“

Der Historiker Wolfgang Kraushaar über Reichsbürger und die Pandemie als Nährboden für die antidemokratische Radikalisierung

Die polizeilichen Razzien gegen die sogenannte Reichsbürger-Szene sind kaum hinreichend verarbeitet. Wer sind die Leute, aus welcher Gedankenwelt kommen sie? Ein umfangreiches Buch zu die- sen Fragen liegt bereits vor. In „Keine falsche Toleranz“ legt der Zeithistoriker Wolfgang Kraushaar die Wurzeln der antidemokrati- schen Traditionen der Verfassungsfeinde in Cordhosen frei. Wir haben mit ihm gesprochen.

Herr Kraushaar, in Ihrem aktuellen Buch „Keine falsche Toleranz“ wid- men Sie sich ausführlich dem aus einer Corona-Demonstration her- vorgegangenen Angriff auf den Deut- schen Bundestag im August 2020. In welchem Zusammenhang steht die- ses Ereignis mit der sogenannten Reichsbürger-Szene?

An jenem Sommertag vor zwei Jahren ist – wenn man einmal von der Bewaffnung absieht – fast alles vorhanden gewesen, was uns und dem Staat momentan um die Ohren zu fliegen scheint: Hass und Verachtung gegenüber dem Herzstück der Demokratie, dem Parlament; der versuchte Schulterschluss mit einem Demokratieverächter wie Donald Trump, den man bereits in Berlin gelandet wähnte; der Auftakt vor der russischen Botschaft Unter den Linden mit einem Anbiederungsversuch gegenüber dem Krim-Annexionisten und heutigen Kriegsverbrecher Wladimir Putin; die Massenbewegung der Querdenker als Katalysator diverser verfassungsfeindlicher Kräfte. Ein halbes Jahr später wirkte die versuchte Reichstagserstürmung dann auch noch als Vorwegnahme jenes gespenstischen Sturmes auf das Capitol in Washington, als das Szenario einer Eroberung der Staatsmacht. Kurzum, die versuchte Erstürmung des Reichstagsgebäudes vom 29. August 2020 war das Ei, aus dem die in der vergangenen Woche sichtbar gewordene Reichsbürger-Verschwörung gekrochen ist.

Sie stellen die Bewegung in den Kontext einer langen antidemokrati- schen Tradition. Wie konnten die Reichsbürger so lange als „Spinner“ belächelt werden?

Obwohl deren Wurzeln auf den Holocaust-Leugner und Rechtsterroristen Manfred Roeder zurückzuführen sind, der 1975 nach einem Kontakt mit Karl Dönitz, dem letzten Reichskanzler, in Flensburg einen „Reichstag“ einberief und sich dort zum „Reichsverweser“ wählen ließ, hat man die Gefährlichkeit dieser Truppe unterschätzt. Erst als 2016 einer von ihnen einen SEK-Mann bei einer versuchten Hausdurchsuchung erschoss, war man vorgewarnt. Die Reichsbürger nicht ernst zu nehmen, dürfte vor allem mit ihrem Sektencharakter und ihrer völlig realitätsfernen Ideologie zu tun gehabt haben, dass die Bundesrepublik in Wirklichkeit kein Staat, sondern eine Art GmbH sei. Doch manchmal wird aus einem Wahngebilde eine reale Bedrohung.

Können Sie die Dimensionen dieser radikalen Strömungen skizzieren?

Die Reichsbürger-Szene ist alles andere als homogen, sie besteht aus Dutzenden unterschiedlichen, häufig miteinander konkurrierenden Ansätzen. Sie stellt weder eine Bewegung noch eine Organisation im eigentlichen Sinne dar, eher ist sie eine Ansammlung verschiedener Netzwerkstrukturen. Vereint fühlen sich jedoch alle Reichsbürger gleichermaßen in ihrer fundamentalen Leugnung der Nachkriegsrepublik – im Hinblick auf die parlamentarische Demokratie, deren Gewaltenteilung, ihre Verfassungsrechtlichkeit und auf die Rechtsstaatlichkeit. Die Corona-Pandemie scheint der ideale Nährboden dafür gewesen zu sein. In meinen Augen ist die Verfassungsfeindlichkeit der Reichsbürger bieten und nicht zuletzt in einem eigenen Artikel, der sogenannten Ewigkeitsklausel, die in den Artikeln 1 bis 20 verankerten Grundrechte so zu schützen, dass sie auch durch parlamentarische Mehrheiten nicht mehr abgeschafft werden können.

Was müssten heute die Merkmale einer solchen Wehrhaftigkeit sein?

Die eben genannten Grundelemente stellen ja bereits wichtige Konkretionen dar. Der von dem Schweizer Journalisten Fritz René Allemann bereits 1955 konstatierte Satz, dass Bonn nicht Weimar sei, gilt auch für die Berliner Republik, also das wiedervereinigte Deutschland. Meiner Wahrnehmung nach befinden wir uns aber seit einiger Zeit in einer veränderten Bedrohungslage. Das hat nicht nur, aber auch mit der Durchsetzung des Internets und der Etablierung rechtsferner Räume in sozialen Medien wie etwa dem russischen Messengerdienst Telegram zu tun, der eine Radikalisierungsmaschine enormen Ausmaßes darstellt. Hin- zugekommen ist allerdings auch, dass verfassungsfeindliche Kräfte für die Sicherheitsdienste in vielen Fällen kaum noch zu lokalisieren sind. Der Verfassungsschutz ist angesichts dieses Dilemmas deshalb dazu übergegangen, eine eigene Kategorie namens „verfassungs- schutzrelevante Delegitimierung des Staates“ einzuführen. Dieses Wortungetüm verrät, dass die strukturellen Vorgaben der Extremismuskonzeption mit ihrer Unterscheidung zwischen links, rechts und islamistisch immer weniger funktionieren. Diese ohnehin untaugliche Ränderdefinition ist so weit aufgeweicht, dass man sich nur noch mit einer Entgrenzung zu helfen weiß. Das kommt einer terminologischen Kapitulation gleich. Angesichts der Ausweitung der als extremistisch angesehenen Kampf- zone auf die gesellschaftliche Mitte, wie sie sich bei den Querdenker- Demonstrationen niedergeschlagen hat, herrscht eine stärker angewachsene Unberechenbarkeit der demokratiefeindlichen Potenziale. Heute wird es vor allem darauf ankommen zu verhindern, dass eine unverhohlen demokratiefeindlich auftretende Kraft wie die AfD in die Lage kommt, an die Hebel staatlicher Macht zu gelangen – zunächst auf kommunaler, dann auf Landes- und schließlich auf Bundesebene.

Was der NPD immer versagt geblieben ist, in den Bundestag zu gelangen, steht nun mit der rechtspopulistischen AfD seit dem Oktober 2017 im parlamentarischen, potenziell exekutiven Raum. Damit ist man dem, was Politikwissenschaftler und Historiker in Bezug auf die Machtergreifung der Nazis als „demokratisches Paradox“ bezeichnen – mit dem legalen Mittel einer de- mokratisch gewählten Mehrheit die Verfassungsordnung auszuhebeln und eine Diktatur zu installieren – einen bedeutenden Schritt näher gekommen.

Woran machen Sie die neuen aus der Mitte der Gesellschaft kommenden Gefahren fest?

Schauen Sie sich an, wer am letzten Mittwoch zu den Festgenommenen zählte: ein Unternehmer, eine Ärztin, ein Pilot, ein Tenorsänger, ein Spitzenkoch, ein Elitesoldat, ein Polizeibeamter sowie eine Richterin und ein Rechtsanwalt, beide promoviert. Und das alles angeführt von einem als Immobilienmakler im Frankfurter Westend tätigen, von seinem eigenen Familienclan freilich ausgestoßenen Adligen, jenem Prinzen Reuß, der einen mit seinem Tweed-Sakko sofort an den AfD- Granden Alexander Gauland erinnert. Allein die hier wie in einem Mikrokosmos abgebildeten Berufsgruppen stehen für das, was man gemeinhin als „gutbürgerliche Mitte“ bezeichnet. Doch diese Statusbezeichnung allein hat in der jüngeren deutschen Geschichte keineswegs automatisch für Demokratiebejahung gestanden. Die Weimarer Republik ist nicht wegen eines zwischen der NSDAP und der KPD ausgebrochenen Bürgerkrieges untergegangen, sondern wegen der Tatsache, dass die Mittelschichtenparteien zusammengebrochen und ihre Mitglieder wie Anhänger zu den Nazis übergelaufen sind.

Sie plädieren für mehr sprachliche Genauigkeit, indem Sie vorschlagen, den Begriff des Extremismus durch Radikalismus zu ersetzen. Was ver- sprechen Sie sich davon?

Vor allem, die bislang nur unzureichend organisierte Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zu effektivieren. In den Politikwissenschaften hat das Extremismuskonzept keinen besonders guten Namen. Das liegt zunächst einmal daran, dass es sich auf die vermeintlichen Ränder der Gesellschaft fixiert und damit die sogenannte Mitte zu- gleich indirekt für sakrosankt erklärt. Sowohl für die extreme Linke als auch für die extreme Rechte wird „Extremismus“ als Etikett verwendet. Dieses ist jedoch vor allem topografischer Natur, wird höchst statisch betrachtet und als eine quasi-anthropologische Größe behandelt. Der Begriff des Radikalismus verfügt demgegenüber im Hinblick auf die Diagnose verfas- sungsfeindlicher Positionen über eine ganze Reihe von Vorteilen. Der größte von allen besteht darin, dass er sehr viel besser dazu in der Lage ist, die Dynamik von politischen Phänomenen, insbesondere den Übergang zu demokratiefeind- lichen Weltanschauungsmustern gründlicher zu begreifen. Bezeichnenderweise spricht kein Mensch von einer „Extremisierung“, jeder aber von Radikalisierung.

Sie haben mehrere Standardwerke über die Geschichte des deutschen Linksradikalismus, insbesondere der RAF, geschrieben. Wie würden Sie die gegenwärtige rechtsradikale Szene im Verhältnis zur RAF der 70er- und 80er-Jahre beschreiben? Gibt es Gemeinsamkeiten? Worin bestehen deren Unterschiede?

Auch wenn ich selbst immer mal wieder beklagt habe, dass die RAF zu einer Art Referenzrahmen für den Terrorismus schlechthin geworden ist, so lassen sich einem Vergleich zwischen dem Linksterrorismus der 70er-Jahre und dem Rechtsterrorismus der Gegenwart doch eine ganze Reihe von Einsichten abgewinnen, die auch für eine präzisere Bestimmung der Reichsbürger-Verschwörung von Bedeutung sein könnten. Die vielleicht wichtigste Differenz besteht darin, dass die gesellschaftlichen Echoeffekte der RAF äußerst be- grenzt waren. Sie fand keinen Anklang bei der Bevölkerung im Allgemeinen und schon gar keinen bei der Arbeiterschaft, dem eigentlichen Adressaten ihrer gewaltsamen Unternehmungen. Hinzu kommt, dass sich die Anhängerschaft der RAF hauptsächlich aus einem linken akademischen Milieu rekrutierte. Das Echo von Rechtsterroristen in der Bevölkerung ist dagegen weitaus größer. Ihre Akteure entstammen der gesamten Palette der bürgerlichen Gesellschaft. Aber auch solch abgeschotteten Einrichtungen wie der Bundeswehr und der Polizei, in die die RAF nie einen Fuß hineinbekommen hat.

In den letzten Wochen wurde kontro- vers darüber diskutiert, inwieweit die Aktionen der sogenannten Letz- ten Generation als terroristisch ange- sehen werden können. Was halten Sie von dieser Diskussion?

Nicht viel. Die Rede von der Klima-RAF ist ja bezeichnenderweise von einem CSU-Politiker wie dem ehemaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt aufgebracht worden. Ein Mann, der in seiner Amtszeit ebenso wie sein Vorgänger Peter Ramsauer und sein Nachfolger Andreas Scheuer nichts für eine bessere Klimabilanz zustande gebracht hat, hätte angesichts der unbestreitbaren Tendenz zu einer Verfehlung der von der Weltgemeinschaft 2015 in Paris deklarierten Ziele zu einer angemessenen Dekarbonisierung einmal seinen Mund halten sollen. Allerdings sehe ich umgekehrt kaum Gründe, die Aktionsformen der „Letzten Generation“ als sonderlich zielführend zu betrachten.

Das Gespräch führte Harry Nutt.



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